YVETTE KIEßLING &
CLAUDIA RÖßGER
"TALES OF GROWING"

Yvette Kießling & Claudia Rößger

"Tales of Growing"

Die beiden Malerinnen Yvette Kießling und Claudia Rößger scheinen geradezu diametral entgegengesetzte künstlerische Ansätze zu verfolgen: Während Rößger ihre Bilder im Atelier erschafft, und – wie sie berichtet – lange in sich trägt bevor sie diese in einem suchenden Prozess auf der Leinwand ausformuliert, geht Kießling den entgegengesetzten Weg. Sie findet ihre Motive direkt in der Natur, vielfach in der tropischen Vegetation Tansanias, wo sie regelmäßig arbeitet, aber auch in außergewöhnlichen europäischen Naturlandschaften wie Hochmooren, Flußquellen und - mündungen. Die Malerin bannt Landschaftseindrücke auf die Leinwand und entwickelt ihre Gemälde aus dem Erlebten. Ihre Bilder sind Ausschnitte eines unüberschaubar großen Naturraums, oft von überbordender Vegetation, wofür Kießling in ihren Werken einen passenden Ausdruck findet. Exemplarisch zeigt dies die Arbeit Amani, Mto Ziwani. Das Bild ist aus Grün-, Türkis- und Blautönen zusammengesetzt und erhält durch ein komplementäres Rot eine hohe farbliche Spannung. Nach oben hin scheint sich die dichte dargestellte Pflanzenwelt zu lichten, wobei ein genauerer Blick offenbart, dass auch hier nur eine Schicht weißer und blauer Farbe aufgetragen wurde, die flüchtig eine enge formale Struktur aus grellen, digital bearbeiteten Linien vor dunklem Hintergrund überdeckt. Das Dickicht wird als Grundstruktur des Bildes offenbar. Kießlings Umgang mit dem vorgefundenen Motiv und ihre vielfältige künstlerische Weiterbearbeitung des Gesehenen sind in der Ausstellung anhand verschiedener Werkreihen anschaulich nachvollziehbar: Ölgemälde auf Papier, die von einem lebendigen Strich und einer lebhaften Spontanität geprägt sind, offenbaren die schnelle und intuitiv anmutende Aufnahme der Landschaften durch die Malerin. Diese Gemälde dienen dann als Grundlage für die Entwicklung von Lithografiesteinen in der Druckwerkstatt, wobei einige Steine auch schon zuvor direkt vor der Natur gefertigt wurden. In einem weiteren künstlerischen Schritt werden diese farbig eingewalzt. Drucke verschiedener Steine werden übereinandergeschichtet, wodurch die Wirkung dichter Landschaft entsteht. Mitunter sind auch Fotografien architektonischer Elemente oder kulturhistorischer Relikte in diese Überlagerungen eingefügt. Schließlich finden sich als dritte Werkgattung große Gemälde, die bei näherer Betrachtung ihre besondere Eigenschaft offenbaren: Es sind Übermalungen digital bearbeiteter Lithografien, wie das Bild Amani, Mto Ziwani. Hier wird abermals der in viele Arbeitsschritte aufgegliederte künstlerische Prozess deutlich, der verschiedenen Reihen von Kießling zugrunde liegt. Über all ihre unterschiedlichen Arbeitsweisen hinweg bleibt die Vorgehensweise der Malerin intuitiv und die Auseinandersetzung mit der Natur – in direkter Anschauung oder in der Erinnerung – für die Bildentstehung obligatorisch. Darin unterscheidet sie sich grundsätzlich von Claudia Rößgers Herangehensweise an die Malerei.

Rößgers Bilder der Serie Blackbox sind in leuchtend gelber Farbe auf schwarz grundierte Leinwand gemalt. Elementarer Teil der Bilderschaffung stellt dabei die Möglichkeit des Übermalens dar, wobei unter der schwarzen Farbe jedwede Ahnung eines Prozessstadiums verschwindet. Jedes überflüssige Detail kann durch Übermalung wieder zurückgenommen und jeder Strich so lange wiederholt werden, bis seine finale Form gefunden ist. Die Malweise führt zu einer starken Fokussierung auf die Figur, beziehungsweise die dargestellte Einzelform, während alles andere ausgeblendet ist. Hier existiert keine Natur, keine Umgebung, nichts anderes als nur der freigestellte Bildgegenstand. Der künstlerische Prozess besteht aus einer kontinuierlichen Entwicklung hin zum finalen Bild.

Diese Suche wird insbesondere an den ungegenständlichen, bzw. ungegenständlich wirkenden Gemälden deutlich, die wie abstrakte Kompositionen sorgfältig entwickelt sind und dabei einen leidenschaftlichen Umgang mit dem Material der Farbe deutlich werden lassen. So sind in der Ausstellung Bildkompositionen und Formstudien zu sehen, die sich erst auf den zweiten Blick als gegenständlich entpuppen – etwa als Hortensienblüten. Daneben ist eine Reihe von Portraits ausgestellt, die in ihrem rohen, bisweilen karikaturesken Stil an barocke Charakterstudien erinnern. Sie zeugen von der Suche nach einem malerischen Ausdruck, der dem Charakter der Figuren entspricht, wie sie die Malerin imaginiert. Schließlich finden sich unter den Blackbox-Gemälden auch surrealistisch anmutende Malereien, in denen die Charakterstudien mit den formanalytischen Aspekten verbunden sind, wie das vielfältig deutbare Gemälde Alles ist Eitel: Eine Figur in grellen Farben hat einen Tierschädel an beiden Hörnern gepackt und hält sich diesen vor den Oberkörper. Sie scheint zu rennen oder zu tanzen – auf letzteres deutet eine zweite Figur hin, die unmittelbar hinter der ersten steht und deren Körper ebenfalls von einem rhythmischen Takt durchdrungen scheint. Der Puls, der das Bild durchfließt, wird in einer bewegten Linie aufgenommen, die den Boden, auf dem die beiden Figuren stehen, aufbricht und beschwingt. Der mystische Ausdruck wird durch den schwarzen Hintergrund verstärkt, der die tanzenden Figuren als einzige Bildobjekte herausstellt.

Dem Schädel hat sich die Malerin darüber hinaus auch in einer isolierten Beschäftigung gewidmet. Dabei wurde sein Abbild zerlegt und auf einzelne Blätter verteilt, wobei erst im Zusammenspiel aller Fragmente der eigentliche Bildgegenstand deutlich wird. Mit dieser Aufgliederung eines Gegenstandes in eine Vielzahl von Einzelbildern ähnelt Rößgers Vorgehensweise derjenigen von Kießling. Während jedoch auf Kießlings Druckreihen immer nur ein kleiner Teil einer umfassenden Landschaftsszenerie abgebildet ist und die dargestellte Landschaft die Bildflächen stets bis an die Ränder ausfüllt, geht Rößger den entgegengesetzten Weg: Bei ihr definiert der Bildgegenstand das Format. Die Ausmaße des Schädels legen die Kubatur des Bildes fest. Während in Kießlings Drucken der Eindruck der Landschaft stetig wiederholt und variiert wird, der dadurch zu einem modularen Überall wird, wird bei Rößger nur in der Summe, im Zusammenspiel aller Einzelbilder, das dargestellte Objekt sichtbar. Die farbige Landschaft aus Linien und Flächen mündet in der Darstellung des Schädels. Wie bei den Bildern der Blackbox-Serie stellt auch hier das Bildobjekt das alleinige Bildzentrum dar.

Im Hallraum, der sich aus dem Zusammenspiel des Schädels, Sinnbild für die Vergänglichkeit irdischen Lebens, mit der üppigen Vegetation aus Kießlings Bildern ergibt, zeigt sich – allen Gegensätzlichkeiten zum Trotz – eine thematische Nähe zwischen den künstlerischen Positionen. Beiden ist eine Zugewandtheit zum Irdischen, zum Leben, zur vegetabilen bzw. anthropomorphen Natur eigen, wobei sie je auf eigene Weise von der natürlichen Form ausgehen und diese auf unterschiedlichen Wegen analysieren. Die Werke der Malerinnen zeugen von dem Bestreben, für das jeweils Abzubildende eine formale Entsprechung zu finden. Bildaufbau, Farbigkeit und Pinselduktus werden je dazu verwendet, den Charakter des Darzustellenden hervortreten zu lassen. Gleichwohl finden die beiden die Themen für ihre Gemälde an entgegengesetzten Orten: Kießling offenbaren sich ihre Landschaftseindrücke im Durchstreifen der Natur, während die Figuren aus Rößgers Kosmos in den tiefen Gründen des Unterbewusstseins und der Welt der Träume ihre Formen erhalten.

Dr. Benjamin Dörr, Berlin 2023

Zur Eröffnung der Ausstellung am Sonntag, 21 April 2024 um 11 Uhr laden wir Sie herzlich ein.

Es sprechen:

PETRA STOLTING
Vorstand Kulturverein Zehntscheuer e.V

DR. BENJAMIN DÖRR
Kunstwissenschaftler, Kunsthistoriker und freier Publizist, Berlin

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Tel.: +49 7472 94 99 138
Mail: post@kultur-rottenburg.de

 

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